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Was uns antreibt

Alles menschliche Verhalten erklären zwei Harvard-Professoren mit ihrer neuen Vier-Triebe-Theorie.
Triebe machen uns Angst. Sie gelten als dunkel und unbeherrschbar. Und doch bestimmen sie unser Leben – vielleicht mehr, als wir wahrhaben wollen. Wie sie uns tatsächlich beeinflussen, untersuchen Paul R. Lawrence und Nitin Nohria. Die beiden Harvardprofessoren vereinen Biologie und Sozialwissenschaften und ergänzen diese neuartige Verknüpfung mit evolutionstheoretischen Erkenntnissen. Das Ergebnis: eine umfassende Theorie menschlichen Verhaltens.

Die vier Grundtriebe

Lawrence und Nohria gehen davon aus, dass sich in der Evolutionsgeschichte vier unabhängige Primärtriebe herausgebildet haben. Diese Antriebskräfte bestimmen, was uns motiviert und wie wir uns verhalten:


  • «acquire» – sich etwas aneignen und immer mehr haben wollen
  • «bond» – sich binden und Beziehungen aufbauen
  • «learn» – lernen und erforschen
  • «defend» – verteidigen oder bewahren.

Nur wenn es uns gelingt, alle vier Grundtriebe zu befriedigen, führen wir ein ausgeglichenes Leben. Wenn wir uns nur auf ein oder zwei Bedürfnisse konzentrieren, geraten wir aus dem Gleichgewicht. Wer etwa den Erwerbstrieb vernachlässigt, ist oft neidisch auf erfolgreichere Menschen. Und wer den Bindungstrieb vernachlässigt, fühlt sich innerlich leer. Weil es nicht immer möglich ist, alle vier Bedürfnisse gleichzeitig zu befriedigen, müssen wir uns für einen Trieb entscheiden – zumindest vorübergehend.

Der Erwerbstrieb

Der Erwerbstrieb drängt uns zur Aneignung von Ressourcen – egal ob Geld, Nahrung oder Erlebnisse. Doch da wertvolle Gegenstände knapp sind, müssen wir mit anderen konkurrieren. Der Mensch auf der Suche nach dem eigenen Vorteil. Ein nachvollziehbarer Ansatz – doch kann der Erwerbstrieb all unsere Verhaltensweisen erklären? «Wir geben Trinkgeld in Restaurants in weit entfernten Städten, die wir wohl nie wieder besuchen werden», so Robert Frank, ein Vertreter der evolutionären Wirtschaftstheorie. «Wir geben anonyme Spenden. Oft verzichten wir darauf zu mogeln, auch wenn wir sicher sind, dass wir nicht erwischt würden.» Dieses Verhalten kann nicht mit einem bloßen Eigeninteresse erklärt werden. Darauf haben übrigens schon die Gründungsväter der Wirtschaftswissenschaften hingewiesen. So hielt etwa Adam Smith das gegenseitige Wohlwollen für genauso wichtig wie das Streben nach dem eigenen Vorteil. Auch die von den Ökonomen behauptete «rationale Entscheidungsfindung» lässt sich widerlegen. So ist der Drang nach sofortiger Befriedigung unseres Erwerbstriebes stärker als jede Vernunft – und somit irrational. Spontankäufe sind der beste Beweis. Auch Manager können sich dem Bedürfnis nach schneller Befriedigung oft nicht entziehen. Immer wieder entscheiden sie sich für den sofortigen Gewinn anstatt für eine Strategie, die langfristig weit größere Gewinne bringen könnte. «Die meisten Manager neigen zu kurzfristigen Maßnahmen, um die Unternehmensleistung
zu verbessern, zum Beispiel durch Stellenabbau oder den Kauf bzw. Verkauf von Firmen, während sie vor langfristigen adaptiven Maßnahmen, etwa Investitionen in einen Wandel der Firmenkultur, eher zurückschrecken», so die Autoren. Unvernunft und Grosszügigkeit passen also ebenso wenig in das traditionelle Erwerbsmodell wie Fairness und Barmherzigkeit. Diese moralischen Empfindungen entspringen einem anderen Trieb – dem Bindungstrieb.

Die vier Triebe in der Organisationsentwicklung
Managementmethoden wie Total Quality oder Management by Objectives haben alle ein gemeinsames Thema: Sie schaffen ein Unternehmen, in dem die Mitarbeiter alle vier Grundtriebe befriedigen können. Produktivität und Wachstum sind die Folge. Die Kernaussagen dieser Methoden:


  • Gestalten Sie Routinejobs abwechslungsreicher und übertragen Sie den Mitarbeitern mehr Entscheidungsbefugnisse. Sorgen Sie dafür, dass alle Beschäftigten bis zu einem gewissen Grad als «Kopfarbeiter» tätig sein können. Auf diese Weise lernen sie ständig dazu und entwickeln neue Ideen.
  • Diskutieren Sie gründlich über Unternehmensziele und entscheiden Sie darüber zentral. Delegieren Sie Entscheidungen über Mittel und Methoden an alle Teile der Organisation.
  • Flachen Sie die Führungshierarchie ab und verringern Sie die Macht- und Statusunterschiede. So verbessern Sie den Ideenfluss.
  • Fördern Sie eng verbundene Mitarbeiterteams, die gemeinsam Herstellungsprobleme lösen.
  • Fördern Sie die Mitarbeiterloyalität gegenüber dem Gesamtunternehmen und gegenüber ihrer Arbeitsgruppe.
  • Konzentrieren Sie sich auf die Kernkompetenzen des Unternehmens und übergeben Sie andere Aufgaben an externe Partner.
  • Binden Sie den Kunden dauerhaft an bestimmte Marken, die für Qualität, Wert und Zuverlässigkeit stehen.
  • Arbeiten Sie konstruktiv mit staatlichen Aufsichtsorganen zusammen und entwickeln Sie vernünftige Richtlinien für einen fairen Wettbewerb und den Schutz öffentlicher Interessen.

Der Bindungstrieb

Sich binden und füreinander sorgen – ein rotes Tuch für eine individualisierte Gesellschaft. Bevor sie ihre Unabhängigkeit aufgeben, bleiben viele lieber einsam. Und doch: Der Bindungstrieb ist stärker, als wir meinen. Das erkennen wir spätestens dann, wenn der Bindungstrieb mit dem Erwerbstrieb in Konflikt gerät. Oder würden Sie einen Freund verraten, wenn Sie dafür eine stattliche Summe bekämen? Der Bindungstrieb wirkt nicht nur
von Mensch zu Mensch, sondern auch von Mensch zu Organisation. Das beweist die Art, wie wir Unternehmen vermenschlichen. Wir reden davon, dass sie Ziele verfolgen und Missionen erfüllen, dass sie Versprechen halten oder brechen, dass sie Leute einstellen und auf die Straße setzen. «Menschen widmen ihrer Organisation Zeit und Mühe und identifizieren sich mit ihr genauso wie mit Freunden, zu denen sie eine emotionale Beziehung haben», so die beiden Forscher. Das erklärt auch, warum Mitarbeiter nicht nur einem eigennützigen Erwerbstrieb nachgehen, sondern sich oft mehr als nötig für das Unternehmen engagieren. Nicht umsonst ist der «Dienst nach Vorschrift» eine der ältesten und wirksamsten Protestformen.

Der Lerntrieb

Wir haben den angeborenen Drang, unsere Neugier zu befriedigen, wir möchten erkennen und begreifen – kurz: wir wollen wissen, was die Welt bewegt. «Unsere unstillbare Neugier hält die Lernmaschine ständig am Laufen», so die Autoren. Und diese Neugier wird dann befriedigt, wenn wir einen Zusammenhang verstanden haben und wenn wir entdecken, dass alles einen Sinn ergibt. Dieses Bedürfnis nach Sinn zeigt sich auch in der Religion. Jede bekannte Kultur hat Mythen über die Schöpfung und das Jenseits erschaffen – das deutet auf einen universellen Lerntrieb hin. Anscheinend brauchen wir religiöse Überzeugungen für drängende Fragen, auf
die wir keine natürlichen Antworten haben. Anders bei den Tieren: Auch wenn viele Tiere neugierig sind, fehlt ihnen ein unabhängiger Lerntrieb. Sie sind auch nicht in der Lage, abstrakte Symbole anzuwenden. Das hängt damit zusammen, dass das menschliche Gehirn einen größeren Anteil am Körpergewicht hat als bei allen anderen Säugetieren. Und wie groß ist das «Gehirn» einer lernenden Organisation? Es besteht aus dem Wissen und den mentalen Bildern ihrer Mitglieder. Diese tauschen sich ständig miteinander aus und überlegen, wie sie sich am besten der Umwelt anpassen. Wenn diese Strategien nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, überlebt die Organisation nicht. Man denke nur an den Börsenkurswert der Dotcoms. Sie hatten einen Marktanteil, dem keine Einnahmen folgten und sind deshalb beispielhaft für eine realitätsfremde Prognose.

Der Verteidigungstrieb

Angst, Verzweiflung, Panik – so reagieren wir, wenn unser Besitz, unsere Bindungen oder unsere Sicht der Welt bedroht sind. Dieses reaktive Verhalten unterscheidet den Verteidigungstrieb von den anderen drei Triebkräften. Diese sind immer proaktiv und streben nach erwünschten Dingen oder Zuständen. Der Verteidigungstrieb achtet zwar auf Gefahren, sucht sie aber nicht und weicht ihnen sogar aus. Trotzdem beeinflusst er – im Zusammenspiel mit den übrigen Trieben – unser Verhalten sehr stark. Der Verteidigungstrieb wird zum Beispiel dann aktiviert, wenn Bindungen bedroht sind. Ein Seitensprung, ein unloyaler Freund oder ein Verrat – darauf antworten viele Menschen mit Wut und Kampf. Sogar eine unbeabsichtigte Beleidigung führt schnell zur Kränkung, die der reuige Partner nur mit vielen Blumen und Geschenken wieder gut machen kann. Auch die Gesellschaft als Ganzes ist daran interessiert, Bindungen zu verteidigen. So duldete sie etwa gewalttätige Reaktionen auf eheliche Untreue über lange Zeit. Und wie die Verteidigung von Besitz hat auch die Verteidigung von Beziehungen bestimmte rechtliche Elemente hervorgebracht, wie das Ehe- und Scheidungsrecht. Brisant ist das Zusammenwirken von Erwerbs- und Verteidigungstrieb. Hier werden wichtige Ressourcen verteidigt – mit allen Mitteln. Angriff und Flucht wechseln sich ab. Wie sich das im täglichen Leben auswirkt, wird spätestens dann klar, wenn sich Marketing und Produktion wieder einmal ums Budget streiten …

Die Thesen der Vier-Triebe-Theorie

  • These 1: Die vier Triebe sind angeboren und universell gültig. Sie sind in irgendeiner physiologischen Form in jedem menschlichen Gehirn vorhanden.
  • These 2: Die Antriebskräfte sind eigenständig. Das heißt, die vier Triebe existieren unabhängig voneinander, auch wenn sich gegenseitig beeinflussen.
  • These 3: Die Triebe leiten sich weder voneinander noch von einem grundlegenden mentalen Trieb ab.
  • These 4: Die vier Triebkräfte bilden einen vollständigen Satz. Es fehlen keine wichtigen menschlichen Antriebskräfte.

Lektionen für Organisationen

Im Unternehmensalltag lässt sich nicht nur beobachten, wie sich die vier Antriebskräfte auswirken. Hier bietet sich auch ein ideales Anwendungsfeld für die «Four Drive»-Theorie. Denn Mitarbeiter geben ihre Bedürfnisse nicht einfach am Werkstor ab. Ebenso wie Lieferanten oder Kunden wollen sie alle Antriebskräfte im Unternehmen ausleben. Nur dann arbeiten sie produktiv und innovativ. Doch was passiert, wenn Unternehmen nur einen einzigen Trieb ihrer Mitarbeiter ansprechen? General Motors ist dafür ein passendes Beispiel. Der amerikanische Autohersteller beging den Fehler, sich ausschließlich auf den Erwerbstrieb von Arbeitern, Managern und Zulieferern zu konzentrieren. Niemand dachte bei GM darüber nach, wie der Lerntrieb, der Bindungstrieb oder der Verteidigungstrieb befriedigt werden könnten – schon gar nicht bei den Fließbandarbeitern. Dieses Versäumnis machte die amerikanische Autoindustrie anfällig. Und deren Verwundbarkeit nutzten die japanischen Produzenten in den siebziger Jahren aus. Denn im Gegensatz zu den westlichen Wettbewerbern befriedigten sie bereits sämtliche Grundtriebe ihrer Mitarbeiter. Teamfertigung, Qualitätsverbesserung und Firmenloyalität machten die Japaner schlagkräftig. Und die Amerikaner hatten mit ihrer einseitigen Betonung des Erwerbstriebes das Nachsehen.

Ein erster multidisziplinärer Schritt

Paul R. Lawrence und Nitin Nohria knüpfen mit ihrem Buch an die Hawthorne- Studien des Psychologen Elton Mayo an, in denen er bereits in den 1920er Jahren medizinische, biologische und sozialwissenschaftliche Ansätze verband. «Unserer Ansicht nach ist die Zeit jetzt reif, um die Suche nach einer Theorie menschlichen Verhaltens, die Natur- und Sozialwissenschaften in sich vereinigt, neu zu beleben», so die Autoren. Dazu braucht es viel Mut – schließlich fühlen sich viele Wissenschaftler von unkonventionellem Denken bedroht. Doch davon lassen sich Lawrence und Nohria nicht beirren. In «Driven» vermitteln sie ihre grundlegende Theorie anschaulich und unkompliziert. Viele Beispiele aus Alltag und Beruf zeigen, wie die vier GrundtrieGrundtriebe bislang unverständliche Verhaltensweisen erklären – eine Fundgrube für Führungskräfte und Organisationsentwickler. Dabei geben sich die beiden Autoren bescheiden und betonen, dass ihre «zwangsläufig immer noch lückenhafte» Theorie noch ausführlich überprüft werden muss. Gleichzeitig wollen sie mit ihrer Arbeit auch andere Wissenschaftler zu einer faächerübergreifenden Verhaltensforschung anregen – auch von der Managementforschung erwarten sie sich neue Einsichten. Man darf gespannt sein.

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Keine Ausreden mehr!

Mit den Techniken der Guinness-Rekordhalterin Luise M. Sommer können Sie sich bald zu «Wetten, dass…» anmelden.
Wozu soll ich mir meine Telefonnummer merken, wenn ich mich anrufen will, kann ich ja im Telefonbuch nachschlagen», soll Albert Einstein einmal gesagt haben. Auch Juristen wird schon früh beigebracht, dass die hohe Kunst letztlich darin besteht, zu wissen, wo man nachschauen muss. Wie jeder – und sei es nur aus seiner Schulzeit – weiß, ist das bloß die halbe Wahrheit. Die «Auswendig- Lerner», die wir in der Schule als Streber bezeichnet haben, beklatschen wir heute neidisch, wenn Sie in «Wetten, dass…» 100 Stellen der Zahl Pi runterrasseln oder in der Millionenshow Geld scheffeln. Und wer unter uns ist noch nie bei der Eingabe seines Bankomatcodes ins Stocken geraten, hat sich noch nie darüber geärgert, dass er eine Telefonnummer nicht im Handy gespeichert hat und dummerweise nicht auswendig weiß, oder ist fast verzweifelt, weil ihm der Name der zauberhaften Bekanntschaft entfallen ist, die man doch erst Donnerstag Abend voriger Woche kennengelernt hat?

Schon die alten Griechen wussten Rat

Ein Gedächtnis «wie ein Nudelsieb» zu haben und den Namen seiner Donnerstag-Abend-Bekanntschaft zu vergessen, war immer schon ein Problem, auch als damit noch keine Millionen
zu gewinnen waren und «Mega-Memory» noch nicht in den Bestseller-Listen (siehe business bestseller Nr. 2/01). Bereits die alten Griechen wussten sich zu helfen und perfektionierten mnemotechnische Methoden, die auch heute noch die Grundlage aller Gedächtnistrainings sind, selbst der unbewussten. Denn fast jeder von uns wendet die eine oder andere Methode ganz automatisch an – so funktioniert das menschliche Gehirn einfach. Wer das Bild einer Sommerwiese vor Augen hat, auf der er als Kind umhergetollt ist, kann förmlich die Blumen riechen. Das gilt nicht nur für die schönen Erlebnisse. Auch wer einmal von einem Hund gebissen wurde, wird beim Anblick selbst des zutraulichsten Vertreters der selben Rasse wieder an den Schmerz erinnert. Unser Gehirn denkt in Bildern, sie sind starke Anknüpfungspunkte für jegliche Art von Information. Diesen Umstand machen sich Gedächtnistrainer zum Beispiel zu Nutze, wenn sie die «Geschichten-Methode» oder die «Haken- Methode» anwenden.

Die Haken-Methode

Während es bei der «Geschichten-Methode» darum geht, sich den Merkstoff in Form einer möglichst bunten Geschichte einzuprägen, nützt die Haken-Methode die beschriebene Fähigkeit unseres Gehirns, beliebige Informationen dauerhaft mit im Gehirn angelegten «Haken» zu verknüpfen. Beispielsweise könnten sie sich eine Liste von Haken für die Zahlen von 1 bis 10 anlegen, indem sie sich von jeder Zahl ein Bild merken, das Ihnen spontan einfällt. Für die 1 vielleicht einen Fahnenmast, für die 4 vielleicht einen Stuhl wegen der vier Beine. Wenn Sie sich zum Spaß jetzt eine Liste von zehn Begriffen merken wollen, brauchen Sie nur jeden der Begriffe bildlich an Ihren Haken aufzuhängen. Die Nummer eins auf der Liste könnten Sie zum Beispiel am Fahnenmast hochziehen, den vierten Begriff auf den Stuhl legen etc. Wenn Sie später einmal nach dem Begriff auf Position eins gefragt werden, brauchen Sie nur nachzusehen, was Sie damals auf ihrem Fahnenmast befestigt hatten. Je bunter, ungewöhnlicher oder lustiger, desto besser funktioniert die Methode übrigens. Unser Gehirn liebt nämlich jede Menge Spaß.

Die besten Tipps der Guinness-Rekordhalterin

Welche Bilder Sie für Ihre Haken wählen spielt absolut keine Rolle, es sollten idealerweise aber Ihre eigenen, ganz persönlichen Haken sein, rät Dr. Luise M. Sommer in ihrem Buch, das die Haken-Methode und mehr als 30 andere Techniken für die verschiedensten Aufgaben ausführlich beschreibt. Seit Luise Sommer vor mehr als 15 Jahren erstmals an der Universität Graz in einem Vortrag von Professor Iberer die Haken-Methode live vorgeführt bekam, hat die dreifache Mutter neben ihrem Beruf als Pädagogin ein neues Hobby, das immer professionellere Züge annimmt.

Neue Sportart: Stufen-Memorieren

Seit der Ausgabe 2003 ist die zweifache österreichische Gedächtnismeisterin mit einem Rekord im «Stufen-Memorieren» im Guinness-Buch verewigt (und wurde von der Guinness-Redaktion gleich für Deutschland vereinnahmt – ein Schicksal, das jüngst auch W. A. Mozart ereilte, Anm. d. Red.). Wer die Guiness Show am 23. Februar 2002, in der live der Rekordversuch stattfand, versäumt hat, wird sich unter «Stufen- Memorieren» auch mit der Beschreibung im Guinness-Buch nur wenig vorstellen können. Zweieinhalb Minuten hatten Luise Sommer und ihr Herausforderer Zeit,ein komplexes im Studio aufgebautes Treppensystem zu besichtigen, abzuschreiten und sich den Weg einzuprägen. Dabei ging es wahllos hinauf, hinunter zur Seite etc. Anschließend mussten die Kandidaten mit verbundenen Augen den Weg so exakt wiedergeben, dass ein Fremder (in diesem Fall eine hübsche Fremde) ohne Absturz sicher über den Treppenparcours spazieren konnte. Luise Sommer schlug mit 36 korrekt wiedergegebenen Richtungswechseln (drei Stufen nach oben, ein Schritt nach links, zwei Stufen nach unten wären drei Richtungswechsel und live ist die Sache wirklich beeindruckend) ihren Gegenkandidaten um einige Meter.

Transfer in den Alltag notwendig

Es stellt sich dennoch die berechtigte Frage: Wozu soll das gut sein? Ein Einwand, den auch Sommer für berechtigt hält. «Wenn ich zum ersten Mal die Loci-Methode, die Hakenmethode oder die Geschichtenmethode kennenlerne, macht das Spaß und ich bin fasziniert. Dann muss ich aber den Transfer in den eigenen Gedächtnisalltag schaffen», so Sommer. Das Buch ist jedenfalls gespickt mit Beispielen und Techniken, die weitaus alltagstauglicher sind als das Stufen- Memorieren. So zum Beispiel Sommers Empfehlung für «garantiert unknackbare» Passwörter: «Denken Sie sich einen positiven (!) Satz aus und tippen Sie davon die Anfgangsbuchstaben». An einem Passwort wie MZSMW («Meine Ziele sind mir wichtig») oder ILMFS («Ich liebe meine Frau sehr») erweitert durch vielleicht eine Ziffer an der zweiten oder dritten Stelle beißt sich der Hacker vermutlich die Zähne aus.

Keine Frage des Alters

Goethe war 82 als er «Faust II» vollendete, Verdi 80 als er «Falstaff» schrieb und sein Freund Toscanini dirigierte mit 87 noch jede Woche auswendig die Live-Konzerte des NBC Symphony Orchestra, zählt Sommer in ihrem Buch auf, nicht ohne auch Sir Peter Ustinov und den großen Management-Vordenker Peter F. Drucker zu erwähnen. Sommer beruft sich auch auf Studien der Harvard Professorin Ellen J. Langer, die belegen, dass «kulturell bestimmte Einstellungen zum Alter mitverantwortlich für das Ausmaß des Gedächtnisverlustes sind, unter dem ältere Menschen leiden. Mit anderen Worten: Negative Einstellungen sorgen für schlechtere Testergebnisse.

Ausreden zählen nicht mehr

Fortgeschrittenes Alter ist also keine taugliche Ausrede für ein Nachlassen der Gedächtnisleistung. «Auch dafür gilt, wie für so viele andere menschliche Fähigkeiten: ‹Wer rastet, der rostet!›», betont Sommer, die jedem Interessierten (egal welchen Alters) empfiehlt, in ganz kleinen Schritten mit einem Gedächtnistraining anzufangen: «Die Techniken in meinem Buch sollte man einfach als mögliches Angebot betrachten und nur das in den eigenen Rucksack packen, von dem man überzeugt ist, dass man es auch im Alltag umsetzen kann. Dann reichen 15 Minuten jeden Tag, um sein Gehirn fit zu halten». Nach der Lektüre von Sommers Buch gibt es also keine Ausreden mehr, wenn Ihnen beim nächsten Mal eine alte Bekanntschaft über den Weg läuft.

Interview: Entscheiden, was man behalten will

Öfter im Alltag die «Mnemo-Technik-Brille» aufzusetzen, rät Gedächtnismeisterin Luise M. Sommer im Interview.

Viele Menschen wollen ihr Gedächtnis gar nicht übermäßig belasten, schreiben sich alles auf und agieren nach dem Motto: Hauptsache ich weiß, wo ich nachschlagen muss. Machen Sie sich noch Notizen?

Angesichts der heutigen Informationsflut ist es wichtig, ganz bewusst zu entscheiden, was man sich merken will und was man delegiert. Je mehr Hilfsmittel wir zur Verfügung haben, elektronische beispielsweise, umso mehr neigen wir dazu, Dinge zu delegieren. Wir sollten uns kritisch fragen, ob das wirklich notwendig ist oder ob wir Gedächtnistraining nicht sogar als Herausforderung betrachten sollten. Dann ist es kein Muss, sondern ein willkommenes Training für die grauen Zellen.

Haben Sie selber noch Angst, irgendetwas zu vergessen?

(lacht) Seit das Thema Gedächtnistraining immer häufiger mit mir verknüpft wird, komme ich fast in einen Zusatzstress, weil ich es ja bald meinem Ruf schuldig bin, mir alles zu merken. Ich sage aber bei jedem Seminar immer dazu, dass ich alle Tipps, die ich den Leuten gebe, selbst mindestens genau so brauche. Auch ich muss ständig an mir selber arbeiten und mir Sätze wie «Tue ganz bewusst, was du tust» in Erinnerung rufen. Die Warnung, nicht zu viele Dinge gleichzeitig zu machen, sondern eines nach dem anderen, Prioritäten setzen, um das Gedächtnis zu entlasten, brauche ich mindestens ebenso wie meine Seminarteilnehmer auch. Aber seitdem ich mein Gedächtnis trainiere, vergesse ich entschieden weniger.

Wie wenden Sie selbst diese Techniken – abgesehen von Telefonnummern und Bank-Codes – im Alltag an?

Es ist ungemein faszinierend zu sehen, wie viel Potenzial brach liegt, wenn man erst einmal die «Mnemo- Technik-Brille» aufsetzt. Ich mochte Geographie nie besonders. Jetzt denke ich mir eine passende Methode aus, um mir die Hauptstädte Europas geordnet nach ihrer Einwohnerzahl zu merken.

Sie stehen im Guinness Buch der Rekorde als Redkordhalterin im «Stufen-Memorieren». Abgesehen davon, dass ich anfangs keinen Schimmer davon hatte, worum es dabei geht, drängt sich mir jetzt, wo ich es weiß, die Frage auf: Wozu soll das gut sein?

Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Beim Stufen-Memorieren ging es nur darum zu zeigen, was ich mir alles merken kann, wenn ich die richtige Technik einsetze. Stufen-Memorieren lässt sich wie alle anderen Gedächtnisexperimente
auf das System dahinter reduzieren. Die Aufgabe wurde von der Guinness-Redaktion gestellt. Ich habe mir dann ein System zurecht gelegt und die aufgebauten Stufen in Bilder übersetzt.

War der Rekord eine besondere Herausforderung für räumliches Denken?

Eigentlich gar nicht. Das war nur ein Vorschlag der Guinness-Redaktion, die immer auf der Suche nach Neuem ist. Das Paradoxe ist, dass ich was meine räumlich-visuelle Intelligenz anlangt, absolut nicht begabt bin. Wenn ich mein Auto in einer Parkgarage abstelle, verwende ich inzwischen ganz bewusst Mnemo-Technik, damit ich es wiederfinde. Ich drehe mich beim Hinausgehen noch einmal um und präge mir das Bild ein, weil ich weiß, das ist mein Blickfeld, wenn ich zurück komme. Oder ich mache mir eine Eselbrücke zur Nummer des Parkplatzes.

Foto: Andreas Hafenscher

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