Was uns antreibt


Alles menschliche Verhalten erklären zwei Harvard-Professoren mit ihrer neuen Vier-Triebe-Theorie.
Triebe machen uns Angst. Sie gelten als dunkel und unbeherrschbar. Und doch bestimmen sie unser Leben – vielleicht mehr, als wir wahrhaben wollen. Wie sie uns tatsächlich beeinflussen, untersuchen Paul R. Lawrence und Nitin Nohria. Die beiden Harvardprofessoren vereinen Biologie und Sozialwissenschaften und ergänzen diese neuartige Verknüpfung mit evolutionstheoretischen Erkenntnissen. Das Ergebnis: eine umfassende Theorie menschlichen Verhaltens.

Die vier Grundtriebe

Lawrence und Nohria gehen davon aus, dass sich in der Evolutionsgeschichte vier unabhängige Primärtriebe herausgebildet haben. Diese Antriebskräfte bestimmen, was uns motiviert und wie wir uns verhalten:


  • «acquire» – sich etwas aneignen und immer mehr haben wollen
  • «bond» – sich binden und Beziehungen aufbauen
  • «learn» – lernen und erforschen
  • «defend» – verteidigen oder bewahren.

Nur wenn es uns gelingt, alle vier Grundtriebe zu befriedigen, führen wir ein ausgeglichenes Leben. Wenn wir uns nur auf ein oder zwei Bedürfnisse konzentrieren, geraten wir aus dem Gleichgewicht. Wer etwa den Erwerbstrieb vernachlässigt, ist oft neidisch auf erfolgreichere Menschen. Und wer den Bindungstrieb vernachlässigt, fühlt sich innerlich leer. Weil es nicht immer möglich ist, alle vier Bedürfnisse gleichzeitig zu befriedigen, müssen wir uns für einen Trieb entscheiden – zumindest vorübergehend.

Der Erwerbstrieb

Der Erwerbstrieb drängt uns zur Aneignung von Ressourcen – egal ob Geld, Nahrung oder Erlebnisse. Doch da wertvolle Gegenstände knapp sind, müssen wir mit anderen konkurrieren. Der Mensch auf der Suche nach dem eigenen Vorteil. Ein nachvollziehbarer Ansatz – doch kann der Erwerbstrieb all unsere Verhaltensweisen erklären? «Wir geben Trinkgeld in Restaurants in weit entfernten Städten, die wir wohl nie wieder besuchen werden», so Robert Frank, ein Vertreter der evolutionären Wirtschaftstheorie. «Wir geben anonyme Spenden. Oft verzichten wir darauf zu mogeln, auch wenn wir sicher sind, dass wir nicht erwischt würden.» Dieses Verhalten kann nicht mit einem bloßen Eigeninteresse erklärt werden. Darauf haben übrigens schon die Gründungsväter der Wirtschaftswissenschaften hingewiesen. So hielt etwa Adam Smith das gegenseitige Wohlwollen für genauso wichtig wie das Streben nach dem eigenen Vorteil. Auch die von den Ökonomen behauptete «rationale Entscheidungsfindung» lässt sich widerlegen. So ist der Drang nach sofortiger Befriedigung unseres Erwerbstriebes stärker als jede Vernunft – und somit irrational. Spontankäufe sind der beste Beweis. Auch Manager können sich dem Bedürfnis nach schneller Befriedigung oft nicht entziehen. Immer wieder entscheiden sie sich für den sofortigen Gewinn anstatt für eine Strategie, die langfristig weit größere Gewinne bringen könnte. «Die meisten Manager neigen zu kurzfristigen Maßnahmen, um die Unternehmensleistung
zu verbessern, zum Beispiel durch Stellenabbau oder den Kauf bzw. Verkauf von Firmen, während sie vor langfristigen adaptiven Maßnahmen, etwa Investitionen in einen Wandel der Firmenkultur, eher zurückschrecken», so die Autoren. Unvernunft und Grosszügigkeit passen also ebenso wenig in das traditionelle Erwerbsmodell wie Fairness und Barmherzigkeit. Diese moralischen Empfindungen entspringen einem anderen Trieb – dem Bindungstrieb.

Die vier Triebe in der Organisationsentwicklung
Managementmethoden wie Total Quality oder Management by Objectives haben alle ein gemeinsames Thema: Sie schaffen ein Unternehmen, in dem die Mitarbeiter alle vier Grundtriebe befriedigen können. Produktivität und Wachstum sind die Folge. Die Kernaussagen dieser Methoden:


  • Gestalten Sie Routinejobs abwechslungsreicher und übertragen Sie den Mitarbeitern mehr Entscheidungsbefugnisse. Sorgen Sie dafür, dass alle Beschäftigten bis zu einem gewissen Grad als «Kopfarbeiter» tätig sein können. Auf diese Weise lernen sie ständig dazu und entwickeln neue Ideen.
  • Diskutieren Sie gründlich über Unternehmensziele und entscheiden Sie darüber zentral. Delegieren Sie Entscheidungen über Mittel und Methoden an alle Teile der Organisation.
  • Flachen Sie die Führungshierarchie ab und verringern Sie die Macht- und Statusunterschiede. So verbessern Sie den Ideenfluss.
  • Fördern Sie eng verbundene Mitarbeiterteams, die gemeinsam Herstellungsprobleme lösen.
  • Fördern Sie die Mitarbeiterloyalität gegenüber dem Gesamtunternehmen und gegenüber ihrer Arbeitsgruppe.
  • Konzentrieren Sie sich auf die Kernkompetenzen des Unternehmens und übergeben Sie andere Aufgaben an externe Partner.
  • Binden Sie den Kunden dauerhaft an bestimmte Marken, die für Qualität, Wert und Zuverlässigkeit stehen.
  • Arbeiten Sie konstruktiv mit staatlichen Aufsichtsorganen zusammen und entwickeln Sie vernünftige Richtlinien für einen fairen Wettbewerb und den Schutz öffentlicher Interessen.

Der Bindungstrieb

Sich binden und füreinander sorgen – ein rotes Tuch für eine individualisierte Gesellschaft. Bevor sie ihre Unabhängigkeit aufgeben, bleiben viele lieber einsam. Und doch: Der Bindungstrieb ist stärker, als wir meinen. Das erkennen wir spätestens dann, wenn der Bindungstrieb mit dem Erwerbstrieb in Konflikt gerät. Oder würden Sie einen Freund verraten, wenn Sie dafür eine stattliche Summe bekämen? Der Bindungstrieb wirkt nicht nur
von Mensch zu Mensch, sondern auch von Mensch zu Organisation. Das beweist die Art, wie wir Unternehmen vermenschlichen. Wir reden davon, dass sie Ziele verfolgen und Missionen erfüllen, dass sie Versprechen halten oder brechen, dass sie Leute einstellen und auf die Straße setzen. «Menschen widmen ihrer Organisation Zeit und Mühe und identifizieren sich mit ihr genauso wie mit Freunden, zu denen sie eine emotionale Beziehung haben», so die beiden Forscher. Das erklärt auch, warum Mitarbeiter nicht nur einem eigennützigen Erwerbstrieb nachgehen, sondern sich oft mehr als nötig für das Unternehmen engagieren. Nicht umsonst ist der «Dienst nach Vorschrift» eine der ältesten und wirksamsten Protestformen.

Der Lerntrieb

Wir haben den angeborenen Drang, unsere Neugier zu befriedigen, wir möchten erkennen und begreifen – kurz: wir wollen wissen, was die Welt bewegt. «Unsere unstillbare Neugier hält die Lernmaschine ständig am Laufen», so die Autoren. Und diese Neugier wird dann befriedigt, wenn wir einen Zusammenhang verstanden haben und wenn wir entdecken, dass alles einen Sinn ergibt. Dieses Bedürfnis nach Sinn zeigt sich auch in der Religion. Jede bekannte Kultur hat Mythen über die Schöpfung und das Jenseits erschaffen – das deutet auf einen universellen Lerntrieb hin. Anscheinend brauchen wir religiöse Überzeugungen für drängende Fragen, auf
die wir keine natürlichen Antworten haben. Anders bei den Tieren: Auch wenn viele Tiere neugierig sind, fehlt ihnen ein unabhängiger Lerntrieb. Sie sind auch nicht in der Lage, abstrakte Symbole anzuwenden. Das hängt damit zusammen, dass das menschliche Gehirn einen größeren Anteil am Körpergewicht hat als bei allen anderen Säugetieren. Und wie groß ist das «Gehirn» einer lernenden Organisation? Es besteht aus dem Wissen und den mentalen Bildern ihrer Mitglieder. Diese tauschen sich ständig miteinander aus und überlegen, wie sie sich am besten der Umwelt anpassen. Wenn diese Strategien nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, überlebt die Organisation nicht. Man denke nur an den Börsenkurswert der Dotcoms. Sie hatten einen Marktanteil, dem keine Einnahmen folgten und sind deshalb beispielhaft für eine realitätsfremde Prognose.

Der Verteidigungstrieb

Angst, Verzweiflung, Panik – so reagieren wir, wenn unser Besitz, unsere Bindungen oder unsere Sicht der Welt bedroht sind. Dieses reaktive Verhalten unterscheidet den Verteidigungstrieb von den anderen drei Triebkräften. Diese sind immer proaktiv und streben nach erwünschten Dingen oder Zuständen. Der Verteidigungstrieb achtet zwar auf Gefahren, sucht sie aber nicht und weicht ihnen sogar aus. Trotzdem beeinflusst er – im Zusammenspiel mit den übrigen Trieben – unser Verhalten sehr stark. Der Verteidigungstrieb wird zum Beispiel dann aktiviert, wenn Bindungen bedroht sind. Ein Seitensprung, ein unloyaler Freund oder ein Verrat – darauf antworten viele Menschen mit Wut und Kampf. Sogar eine unbeabsichtigte Beleidigung führt schnell zur Kränkung, die der reuige Partner nur mit vielen Blumen und Geschenken wieder gut machen kann. Auch die Gesellschaft als Ganzes ist daran interessiert, Bindungen zu verteidigen. So duldete sie etwa gewalttätige Reaktionen auf eheliche Untreue über lange Zeit. Und wie die Verteidigung von Besitz hat auch die Verteidigung von Beziehungen bestimmte rechtliche Elemente hervorgebracht, wie das Ehe- und Scheidungsrecht. Brisant ist das Zusammenwirken von Erwerbs- und Verteidigungstrieb. Hier werden wichtige Ressourcen verteidigt – mit allen Mitteln. Angriff und Flucht wechseln sich ab. Wie sich das im täglichen Leben auswirkt, wird spätestens dann klar, wenn sich Marketing und Produktion wieder einmal ums Budget streiten …

Die Thesen der Vier-Triebe-Theorie

  • These 1: Die vier Triebe sind angeboren und universell gültig. Sie sind in irgendeiner physiologischen Form in jedem menschlichen Gehirn vorhanden.
  • These 2: Die Antriebskräfte sind eigenständig. Das heißt, die vier Triebe existieren unabhängig voneinander, auch wenn sich gegenseitig beeinflussen.
  • These 3: Die Triebe leiten sich weder voneinander noch von einem grundlegenden mentalen Trieb ab.
  • These 4: Die vier Triebkräfte bilden einen vollständigen Satz. Es fehlen keine wichtigen menschlichen Antriebskräfte.

Lektionen für Organisationen

Im Unternehmensalltag lässt sich nicht nur beobachten, wie sich die vier Antriebskräfte auswirken. Hier bietet sich auch ein ideales Anwendungsfeld für die «Four Drive»-Theorie. Denn Mitarbeiter geben ihre Bedürfnisse nicht einfach am Werkstor ab. Ebenso wie Lieferanten oder Kunden wollen sie alle Antriebskräfte im Unternehmen ausleben. Nur dann arbeiten sie produktiv und innovativ. Doch was passiert, wenn Unternehmen nur einen einzigen Trieb ihrer Mitarbeiter ansprechen? General Motors ist dafür ein passendes Beispiel. Der amerikanische Autohersteller beging den Fehler, sich ausschließlich auf den Erwerbstrieb von Arbeitern, Managern und Zulieferern zu konzentrieren. Niemand dachte bei GM darüber nach, wie der Lerntrieb, der Bindungstrieb oder der Verteidigungstrieb befriedigt werden könnten – schon gar nicht bei den Fließbandarbeitern. Dieses Versäumnis machte die amerikanische Autoindustrie anfällig. Und deren Verwundbarkeit nutzten die japanischen Produzenten in den siebziger Jahren aus. Denn im Gegensatz zu den westlichen Wettbewerbern befriedigten sie bereits sämtliche Grundtriebe ihrer Mitarbeiter. Teamfertigung, Qualitätsverbesserung und Firmenloyalität machten die Japaner schlagkräftig. Und die Amerikaner hatten mit ihrer einseitigen Betonung des Erwerbstriebes das Nachsehen.

Ein erster multidisziplinärer Schritt

Paul R. Lawrence und Nitin Nohria knüpfen mit ihrem Buch an die Hawthorne- Studien des Psychologen Elton Mayo an, in denen er bereits in den 1920er Jahren medizinische, biologische und sozialwissenschaftliche Ansätze verband. «Unserer Ansicht nach ist die Zeit jetzt reif, um die Suche nach einer Theorie menschlichen Verhaltens, die Natur- und Sozialwissenschaften in sich vereinigt, neu zu beleben», so die Autoren. Dazu braucht es viel Mut – schließlich fühlen sich viele Wissenschaftler von unkonventionellem Denken bedroht. Doch davon lassen sich Lawrence und Nohria nicht beirren. In «Driven» vermitteln sie ihre grundlegende Theorie anschaulich und unkompliziert. Viele Beispiele aus Alltag und Beruf zeigen, wie die vier GrundtrieGrundtriebe bislang unverständliche Verhaltensweisen erklären – eine Fundgrube für Führungskräfte und Organisationsentwickler. Dabei geben sich die beiden Autoren bescheiden und betonen, dass ihre «zwangsläufig immer noch lückenhafte» Theorie noch ausführlich überprüft werden muss. Gleichzeitig wollen sie mit ihrer Arbeit auch andere Wissenschaftler zu einer faächerübergreifenden Verhaltensforschung anregen – auch von der Managementforschung erwarten sie sich neue Einsichten. Man darf gespannt sein.

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