Harro von Senger: «Europäer sind listenblind»


Harro von Senger hat die 36 Strategeme erstmals im Westen bekannt gemacht. Im bb-Interview kritisiert er die Kurzsichtigkeit der Europäer und erklärt, warum chinesische Strategen Machiavelli und dem Rest der Welt überlegen sind.

business bestseller: Einmal sollen die 36 Strategeme in China als Volkswissen gelten, dann wird wieder von Geheimwissen gesprochen. Was stimmt denn nun?
Harro von Senger: Man muss unterscheiden zwischen den 36 Strategemen, wie sie in dem Buch Sanshiliu Ji (Miben Bingfa), zu Deutsch «Die 36 Strategeme (Das geheime Buch der Kriegskunst)» dargelegt wurden, das Ende der Ming-, Anfang der Qing-Zeit, also im 16./17. Jahrhundert in China geschrieben wurde, und jedem einzelnen dieser 36 Strategeme, die, je für sich, schon früher bald in diesem Roman, bald in jener Geschichtschronik etc. erwähnt wurden. Das mittelalterliche Buch, ich spreche da vom «Traktat», wurde jahrhundertelang geheimgehalten. Es ist in 36 Kapitel eingeteilt, jedes Kapitel ist mit einem dieser 36 Strategeme und einer Nummer betitelt, auf jeden Strategemausdruck folgt ein theoretischer Teil und ein praktischer Teil mit Hinweisen auf Beispiele, vorwiegend aus der chinesischen Kriegsgeschichte.

General Zhang Xun liest Bücher über die Kriegskunst
General Zhang Xun, der während der Tang Dynastie lebte, so lehrt uns die Erläuterung zu diesem Bild, studierte nachts beim Schein seiner Lampe eingehend Bücher über die Kriegskunst, um seine Feinde zu bezwingen.

bb: Also genau wie Ihre große, zweibändige Ausgabe über die 36 Strategeme*).
von Senger: Ja, diese Ausgabe folgt dem Urtext und ist die erste westliche Ausgabe des etwa 500 Jahre alten Werkes. Jedenfalls war auch in China geheim, dass ein solches kompaktes, systematisch gegliedertes Buch über die List existiert. Das Buch wurde in den 1940er Jahren von einem Chinesen entdeckt. Erst Anfang der 1960er-Jahre berichtete das erste Mal eine chinesische Zeitung darüber.
In diesem Traktat sind nun solche Listen, Listenformeln, wie «Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen» oder «Den Tiger vom Berg in die Ebene locken», die allen Chinesen vertraut sind, zusammengestellt. Etwa zwei Drittel der 36 Strategeme zählen in China zum Allgemeinwissen, etwa ein Drittel sind Chinesen nicht so geläufig. Das Traktat war geheim. Man sagt, dass ein Geheimbund es benutzt habe, um die mandschurische Qing-Dynastie zu stürzen. Jahrhundertelang wusste von diesem Traktat außer Insidern offenbar kein Chinese etwas, und vor allem auch kein Sinologe.

bb: Woher kommt der Ausdruck Strategem? Hat der früher schon bestanden oder ist auch er erst mit Auffinden des Buches in dieser Form in China verwendet worden?
von Senger: Im Chinesischen gibt es das deutsche Wort «Strategem» natürlich nicht, man findet es freilich in vielen westlichen Sprachen. Erstmals bin ich auf das Wort «Strategem» gestoßen, als ich noch in Peking studierte, 1975 bis 1977. Damals war das Traktat noch geheim. Der österreichische Professor Walter Zeisberger, der in den 30er-Jahren nach China gekommen war, hat mir ein Lexikon gezeigt, das nur für den internen Gebrauch und nicht für Ausländer bestimmt war. Ein chinesisch-englisches Lexikon politischer und militärischer Ausdrücke. Da las ich den Eintrag «Sanshiliu ji – the thirty-six stratagems». Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Wort «stratagem» noch nie gehört. Ich wusste auch nicht, dass es in der deutschen Sprache existiert. Erst einige Zeit später erfuhr ich, dass es dieses Wort auch im Deutschen gibt, wenn auch nicht mehr im Alltagswortschatz.

bb: Das soll ja jetzt wieder kommen.
von Senger: (lacht) Ja, hoffentlich. Ich fand das Wort sehr passend. Das chinesische Wort «ji», also «Strategem», kommt im ältesten Militärtraktat der Welt «Meister Sun’s Kriegskunst» (2011 neu übersetzt von Harro von Senger unter dem Titel Meister Suns Kriegskanon) vor, und zwar gleich im Titel des ersten Kapitels. Meister Sun war ein Zeitgenosse von Konfuzius (551-479 v.Chr.). In dem ihm zugeschriebenen Buch wird die Wichtigkeit der Kriegslist hervorgehoben. Eines der 36 Strategeme, die im geheimen Traktat gesammelt wurden, geht direkt auf «Meister Sun’s Kriegskunst» zurück. Die sprachlichen Formulierungen der 36 Strategeme, also die 36 Strategemformeln, haben übrigens ganz unterschiedliche Quellen. Zum Beispiel geht die Strategemformel Nr. 7 «Aus dem Nichts etwas erzeugen» auf das «Daodejing» zurück, das dem sagenhaften Lao Zi (7./6. Jh. v.Chr.) zugeschrieben wird. «Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen» hat demgegenüber seinen Ursprung in einem Gedicht aus der Tang-Zeit, etwa 800 nach Christus.

bb: Bereits Sun Zi, also Meister Sun, sagt: «Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne Kampf zu brechen», und eines der Strategeme behandelt das Gewinnen durch Weglaufen. Ist das ein typisch chinesischer Wesenszug, den Sieg nicht nur im Kampf zu suchen?
von Senger: Also Wesenszug würde ich nicht sagen, es ist eher ein Teil der Intelligenz, der Weisheit, so wie sie in China aufgefasst wird. In China gilt es als weise, wenn man ein feindliches Territorium mit List erobert, statt mit Bomben und Draufschlagen. Chinesen finden es intelligenter, feindliches Gelände unzerstört zu erobern, beispielsweise mit dem Strategem Nr. 19, den Gegner von innen her so aufzuweichen, dass er zusammenbricht, ohne dass man Truppen hinschicken muss. Eroberungen auf diese Weise empfinden Chinesen als clever. Ein Waffengang wird deshalb aber nicht ausgeschlossen, er ist nicht etwa verpönt. Er gilt bloß nicht als die optimale Vorgehensweise. «Siegen ohne zu kämpfen» ist übrigens eine falsche Übersetzung. Sun Zi ist nicht gegen den Kampf. Wenn man den Gegner mit Köpfchen besiegt, ist das ist sehr wohl auch ein Kampf. Siegen ohne Waffengang wäre die richtige Übersetzung.

bb: Wenn man die 36 Strategeme liest, kommen einem sofort Machiavelli oder «Die 48 Gesetze der Macht» von Robert Greene in den Sinn. Wo sind die chinesischen Strategeme einzuordnen im Vergleich etwa zu Machiavelli? Sind uns die Chinesen im strategischen Denken überlegen?
von Senger: Zuerst einmal würde ich klar unterscheiden zwischen strategemischem Denken, also listkundigem Denken, und strategischem Denken. Letzteres würde ich nicht so weitläufig benützen wie es im deutschen Sprachraum leider üblich ist. Strategisches Denken ist langfristiges, grundsätzliches Denken im Gegensatz zu taktischem Denken, das kurzfristig, auf den Moment ausgerichtet ist. List kann strategisch, also langfristig, eingesetzt werden, aber auch aus dem Moment heraus, dann ist es eine taktische Anwendung. Um das chinesische Strategemdenken wirklich zu verstehen, sollten wir diese Unterscheidung wichtig nehmen. In Europa kommt List fast nur taktisch vor, aufgrund eines Augenblicksbedürfnisses. In China werden Strategeme auch strategisch eingesetzt, also über Jahrzehnte hinweg. Es besteht ein riesiger Unterschied zwischen meist eher kurzfristiger, ja kurzsichtiger europäischer Listanwendung aus dem Bauch heraus und oftmals langfristiger chinesischer Listanwendung gestützt auf den Intellekt.

bb: Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
von Senger: Nehmen Sie die von China seit Dezember 1978 verfolgte Modernisierung und den gewaltigen Wirtschaftsaufschwung, der die Menschen jetzt in Erstaunen versetzt. Dieser bis 2049 geplante Vorgang wird in der chinesischen Strategem-Fachliteratur schon seit zwei Jahrzehnten einhellig dem Schaltstellen-Strategem Nr. 18 zugeordnet.
Doch zurück zu Machiavelli: Ich unterscheide drei Stufen der Listerkennung. Für die Nullstufe ist Eva das beste Beispiel. Eva ist die typische Nullmeldung, sprich Listerkennung der Stufe Null. Als die Schlange sie überlistet, merkt sie gar nichts. Dann gibt’s die Listerkennung der Stufe Eins, da steht Machiavelli. Machiavelli beschreibt Situationen und Begebenheiten, wobei er – allerdings selten – ausdrücklich sagt, da werde jetzt eine «List» angewandt. Aber er schreibt nicht, welche. Er beschreibt nur den puren Vorgang und sagt dann pauschal, das ist eine «List» – mehr nicht. Die Höchsstufe der Listerkennung ist bisher nur in China erreicht worden. Die Listkompetenz auf dieser Stufe besteht darin, dass man nicht nur, wie Machiavelli, von «List» redet, sondern fähig ist, genau zu identifizieren, um welche List es sich handelt. Diese Stufe haben nur Chinesen erreicht. Und nicht nur in Strategembüchern, sondern bereits in Volksromanen.

bb: Europa hinkt China also in diesem Bereich weit hinterher?
von Senger: Europäer sind meist sprachlos gegenüber Listen, – wenn überhaupt – dann sind sie höchstens imstande zu zu sagen, dass eine List oder ein Trick im Spiel ist. Das könnte man vergleichen mit zwei Entwicklungsstufen der Medizin. Eine primitive, die nur sagen kann «ja, Sie sind krank», nicht mehr. Soweit reicht unsere europäische Listkompetenz. Chinesen hätten gemäß diesem Vergleich die fortschrittlichere Medizin, dank der sie sagen könnten: «Sie haben eine Blinddarmentzündung». Es ist klar, welche einem im Krankheitsfall die liebere wäre, welche die effektivere ist.
Wenn ich das anspreche, sagen die Leute oft, wir kennen doch auch Sprüche wie «Jemandem den Wind aus den Segeln nehmen», wir haben Grimms Märchen, wir haben den listenreichen Odysseus, etc. Sie alle verkennen, dass es bei uns kein auch nur annähernd so kompaktes Kompendium der Listtechniken gibt. Wir haben nur lauter List-Anekdoten, keine Zusammenstellung von recht abstrakt formulierten Listtechniken. Auch in der Odyssee werden Sie nie eine List benannt finden. Selbst die Odysee bringt es bloß auf Stufe Eins, höchstens.

bb: Was prognostizieren Sie denn, wenn China einmal in dieser globalisierten Wirtschaftswelt richtig Fuß fasst?
von Senger: Wenn Sie heute chinesische Wirtschaftsnachrichten lesen, dann sind oft die Chinesen die großen Nutznießer. Ich glaube, Europäer merken das meist nicht einmal! Das hängt meiner Meinung nach mit der europäischen Listenblindheit und damit zusammen, dass Europäer zum Teil sehr kurzfristig denken und nicht zwischen Strategie und Taktik unterscheiden können. Schon eine Fünf-Minuten-Entscheidung wird hier als strategische Entscheidung bezeichnet. Da strebt zum Beispiel derzeit in Konkurrenz zu Siemens eine französische Firma in China nach einem großen Auftrag und macht Zugeständnisse, durch die sie ihre ganze Technologie an China abgibt. Die französische Firma stellt offenbar keine langfristigen, also strategischen Überlegungen über die Risiken eines solchen Transfers an. Allein der taktische, kurzfristige Gewinn scheint zu zählen. Wenn Sie sich ein derartiges listenblind-kurzsichtiges europäisches Geschäftsgebahren flächendeckend über die kommenden Jahrzehnte vorstellen, dann ist für mich klar, wer einen «Wirtschaftskrieg» globaler Art gewinnen wird.
Interview: Alexander Krunic

Siehe auch www.36strategeme.ch
Foto: Günter Reisp für business bestseller | Illustration: Archiv Senger

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