Fredmund Malik über den «Schlüssel zum Lernen von der Natur» und den notwendigen Paradigmenwechsel in Wirtschaft und Gesellschaft.
business bestseller: Sie fordern ein grundlegendes Umdenken im Management. In welche Richtung soll dieser Paradigmenwechsel führen?
Fredmund Malik: Der Paradigmenwechsel führt konsequent weg vom reduktionistischen zum ganzheitlichen Weltbild. Das mechanistische Denkmodell wird vom systemischen Denkmodell abgelöst. Die Grundlagen von Management sind nicht mehr die Wirtschaftswissenschaften, sondern Systemik, Kybernetik und Bionik. Richtig verstandenes Management wird als wichtigste gesellschaftliche Funktion und als Beruf verstanden werden.
Warum halten Sie ein an der Mechanik orientiertes Weltbild für einen Irrweg? Erfüllt dieses nicht auch seinen Zweck?
Dort, wo die mechanistische Denkweise passt, wird sie weiterhin angewandt werden. Sie ist ja sehr erfolgreich gewesen. Aber sie passt eben nicht überall. In der Welt der Organismen, besonders der Nervensysteme und Gehirne, ist sie das falsche Modell. Sie ist auch das falsche Vorbild für die Gestaltung und Lenkung von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisationen. Das Hauptproblem von heute, nämlich Komplexität, kann mit mechanistischen Modellen nicht gelöst werden. Das mechanistische Denken wurde über den Bereich hinaus ausgeweitet, wo es noch nützlich ist.
Was können Unternehmen und der Staat von der Natur lernen?
Der Schlüssel zum Lernen von der Natur liegt in den modernen Wissenschaften Bionik und Kybernetik. Ihr methodisches Prinzip ist genial einfach: Wenn Du ein Problem lösen musst, dann schau zuerst in der Natur nach, ob dort schon Lösungen zu finden sind.
Die Natur ist ein gigantisches Forschungs- und Entwicklungslaboratorium. Die Methode der Natur sind Tag und Nacht laufende Versuche, rund um die Welt, ohne Unterlass – ein umfassendes, ständiges Experimentieren in der Realität. Ihre Strategie ist die Optimierung des Funktionierens aller Organismen in ihrer Umwelt, des ganzen, komplexen ökologischen Systems.
Bionik und Kybernetik sind, gemessen an den Naturwissenschaften, ganz junge Disziplinen, an vorderster Forschungsfront. Man beginnt erst, ihren Reichtum und ihre Leistungskraft zu verstehen. Erstaunlich ist, wie interessiert die Menschen an ihnen sind, besonders die Jugend. Die Leute merken intuitiv, dass mit den alten Denkweisen des 20. Jahrhunderts die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht gelöst werden können.
Was kann man lernen? Ein paar Beispiele: Erstens, man kann schon heute Erkenntnisse der Neurowissenschaften auf die Architektur von Organisationen übertragen. Egal ob Wirtschaftsunternehmen, Krankenhäuser, Sozialeinrichtungen, Schulen, Universitäten – alle Organisationen können entsprechend dem Modell lebender Systeme organisiert werden. Die Pionierarbeit wurde von meinem verstorbenen Freund und Partner Professor Stafford Beer geleistet, der das «Viable Systems Model» geschaffen hat.
Damit verbunden ist eine neue, bahnbrechende Methode, die Team-Syntegration, mit der manin kürzestmöglicher Zeit mit der größtmöglichen Zahl von Personen komplexeste Probleme zu einem tragfähigen Konsens führen kann, indem das vorhandene Wissen maximal genutzt wird. Ganz generell kann man die Gesetze des Funktionierens von hochkomplexen Systemen lernen.
Halten Sie die Organisationsform «Staat» für ein Auslaufmodell?
Es kommt darauf an, was man unter «Staat» verstehen will. Der Staat, wie er von den Philosophen der Freiheit, einer funktionierenden Rechtsordnung und der bestmöglichen Nutzung von Wissen und Erfahrung seiner Bürger verstanden wurde, ist dringender nötig als je zuvor. Der Staat, wie er heute ist, mit heutiger Politik und Verwaltung, ist aber in der Tat ein Auslaufmodell. Nicht der Staat als solcher ist also das Problem, sondern die konkrete Art, wie er heute organisiert ist.
Die Struktur der staatlichen Organisationen stammt aus dem 19. Jahrhundert. Der Beweis dafür liegt in der Unfinanzierbarkeit praktisch aller Staaten weltweit. Aber der Geldmangel ist nur das Oberflächenproblem. In Wahrheit ist nicht Geldmangel das Problem, sondern die Funktionsweise der Organisationen. Diese kann auch mit noch so viel Geld nicht verbessert werden. Es braucht anders gebaute Organisationen, die anders funktionieren, – und dann werden wir für bessere Leistung weniger Geld brauchen.
Der heutige Staat kann mit den Kernproblemen der modernen Gesellschaft nicht umgehen – nämlich mit der rapide wachsenden Komplexität und mit dem neuen «Rohstoff», nämlich Wissen.
Die Welt wird offenbar immer komplexer. Warum ist das so und wie sollen wir damit umgehen?
Der Anstieg von Komplexität, und zwar in astronomischen Größenordnungen, entsteht aus der Interaktion. Immer mehr Menschen und Systeme stehen miteinander in Beziehung. Das «Transportmittel» dafür sind Daten, Information, Wissen und Erkenntnis, – die übrigens je ganz verschieden sind.
Bisher standen im Vordergrund Materie und Energie – die klassischen Größen der Wirtschaft und auch der Wissenschaft. Sie sind weiterhin wichtig, in Form von Rohstoffen, Waren, vieler Dienstleistungen wie Tourismus, von Produktionsprozessen, in Form des Einkaufens und Verkaufens, des Transportierens. Das wird es weiterhin geben. Um Größenordnungen wichtiger für das Wachstum von Komplexität sind aber Information, Wissen und Erkenntnis. Das ist auch für die natürliche Evolution so. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Die energie- und materiebezogenen Aspekte bei Säugetieren sind sehr ähnlich, Skelett, Muskeln, Blutkreislauf, Organe usw. Der entscheidende Unterschied liegt in den Nervensystemen und Gehirnen, in ihrer Größe und Funktionskapazität. Je mehr Komplexität ein Organismus zu verarbeiten vermag, umso höher kann er sich entwickeln. Wir müssen also die Angst vor Komplexität verlieren und lernen, die positive Seite von Komplexität zu nutzen. Alle höheren Fähigkeiten, wie Anpassen, Evolvieren, Lernen, Denken, Wahrnehmen, Bewusstsein usw. sind Folgen von Komplexität.
Sie haben bereits vor mehr als 20 Jahren als einer der ersten über systemisches Management geschrieben. Wo wird heute systemisches Management in Ihrem Sinne praktiziert?
Ein Beispiel sind integrierte Managementmodelle, nach denen der Führungsprozess organisiert ist. Ein anderes Beispiel ist die konsequente Prozessorientierung. Wir haben die ersten mit kybernetischem Feedback integrierten Prozessmodelle für Unternehmungen bereits vor 30 Jahren gemacht. Mit der heutigen Info-Technologie werden sie realisiert.
Ein weiteres Beispiel ist die Integration aller Prozesse nach den Basisdimensionen des Unternehmensgeschehens – Leistungsentwicklung, Leistungserstellung und Leistungsverwertung und einem integrierten Wertekreislauf –, sodass tatsächlich ein ganzheitliches System entsteht. Heute ist das in den fortgeschrittenen Unternehmen zumindest teilweise realisiert. In immer mehr Firmen werden die Mitarbeiter in Systemorientiertem Management ganzheitlich ausgebildet. Ferner haben sich in den letzten Jahren immer mehr Manager den optimierten Kommunikationsprozess der so genannten Team-Syntegration angewandt, der nach einem kybernetischen Modell organisiert ist. Konsensfindung, Umsetzungsgeschwindigkeit und Resultate werden damit nachweislich um Faktoren erhöht.
Einige Pionierunternehmen arbeiten heute mit dem so genannten Viable System Model (VSM), dem kybernetischen Analogon zum menschlichen Nervensystem als Organisationsstruktur. Die Zeit der Matrixorgansiation ist vorbei. Sie behindert Geschwindigkeit, Flexibilität und Konkurrenzfähigkeit.
Welche Rolle spielt die Informationstechnologie bei der Transformation des neuen Weltbildes?
IT ermöglicht die allgemeine Realisierung von kybernetischen, bionischen und systemischen Managementsystemen und -prozessen. Sie ist das technische Vehikel dazu, aber bisher wurde sie in großem Umfang unter ihren Möglichkeiten angewandt. Sie hat die operativen Prozesse erfasst, aber noch lange nicht ausreichend die Managementprozesse. Solange es noch Sitzungen im klassischen Stil gibt, haben wir noch Verbesserungsmöglichkeiten in Potenzen.
Wie werden Wirtschaft und Gesellschaft organisiert sein, wenn das kartesianische Zeitalter abgelöst worden ist?
Architektur und Funktionsprinzipien werden nicht mehr aus der Betriebswirtschaftslehre kommen, sondern aus Bionik und Kybernetik. Die Organsiationen werden nach dem Muster lebensfähiger Systeme, also Organismen, gestaltet sein. Die Organisationsprinzipien werden Selbstregulierung und Selbstorganisation sein. Die Hierarchie der Positionsmacht wird der Hierarchie von besserem Wissen und mehr Erkenntnis weichen. Die Führung wird nicht mehr von im Voraus feststehenden Personen ausgeübt, sondern ständig wechselnd von demjenigen, der die besten Kenntnisse hat. Leute, die an ihren eigenen Privilegien interessiert sind, werden von jenen verdrängt, die am Beitrag zum Ganzen und am Dienst an der Sache orientiert sind.
Das Erlernen von Management wird in den Grundschulen beginnen. Jeder Mensch wird Managementkenntnisse brauchen, damit er sich selbst managen kann, beschäftigungsfähig ist und sich in der Gesellschaft zurechtfinden kann. Das wird dieselbe Bedeutung haben wie bisher Lesen und Schreiben. Komplexität, Control und Funktionieren werden Hauptthemen der Managementausbildung sein. Jedes Universitätsstudium wird ein Modul Management haben, damit man sich in den Organisationen zurechtfindet und sein Wissen wirksam machen kann.